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Europa und die „Barbareskenfrage“ 1814–1820

Durchführung: Frank Eisermann

BarbarossaAuf den Versuch Spaniens, Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts die „Reconquista“ auch auf Nordafrika auszudehnen, reagierten die „Barbareskenstaaten“, so nannte man im zeitgenössischen Europa die neuzeitlichen Staaten des Maghreb, mit einem massiven Kaperkrieg gegen die iberische Großmacht, ihre Verbündeten und ihre Handelspartner. [1] Während der Konflikt mit Spanien und dem von Malta aus gegen die islamische Schifffahrt operierenden Johanniter-Orden über drei Jahrhunderte anhielt, schlossen zahlreiche europäische Staaten zur Sicherung ihrer Schifffahrt mit den Staaten des Maghreb Friedensverträge. [2]

Obwohl die Seemacht der Staaten des Maghreb seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung verlor [3], wurden diese im letzten Drittel des Jahrhunderts zunehmend zur Zielscheibe aufgeklärter Autoren.Botschafter Vor allem ihre ebenfalls an realer Bedeutung nachlassende Praxis des Kaperkrieges, die damit einhergehende Versklavung von Kriegsgefangenen und der mit dem Abschluss von Friedensverträgen häufig verbundene Zwang zu Tributzahlungen seitens der europäischen Vertragspartner standen im Fokus der Kritik. Diese Praktiken der Staaten des Maghreb befanden sich keineswegs im Widerspruch zu denen der zeitgenössischen europäischen Staaten. Vielmehr stellten die Staaten des Maghreb, die nunmehr als Synonyme für Despotie, Unfreiheit und Raub galten, eine ideale Folie für die Kritik der auch in Europa zu überwindenden Verhältnisse dar. [4]

Rossini CDAn diese Vorstellungen knüpften unmittelbar nach dem Sturz Napoleons im Jahre 1814 in ganz Europa zahlreiche Stimmen an, die – wie das kontinentweit agierende, nichtstaatliche Netzwerk der Chevaliers Libérateurs des Esclaves Blancs en Afrique (Ritter zur Befreiung der weißen Sklaven in Afrika) – den Aufbau einer gegen die Staaten des Maghreb operierenden europäischen Flotte oder die Errichtung einer gemeinsamen europäischen Kolonie an der Küste Algeriens mit massiven öffentlichkeitswirksamen Kampagnen forderten. Wie schon die Autoren des 18. Jahrhunderts, verbanden sie ihre Forderungen hinsichtlich der „Barbareskenstaaten“ mit Vorstellungen einer europäischen Nachkriegsordnung, die von einem europäischen Gleichgewichtssystems konstitutionell verfasster Nationalstaaten, Freihandel und einer rechtlich bindenden Völker- und Seerechtsordnung geprägt sein sollte.

Diese politischen Konzepte der Aufklärung verschmolzen in der europäischen Kampagne gegen die „Barbareskenstaaten“ mit millenaristischen Motiven eines überkonfessionellen Christentums.Mary Rose In der als Auftragsarbeit des Lübecker Senats verfassten, an den Wiener Kongress gerichteten Schrift Ueber die Seeräuber im Mittelmeer und ihre Vertilgung [5], für die Friedrich Hermann mit einer goldenen Ehrenmedaille durch den Bremer Senat ausgezeichnet wurde, forderte dieser nicht nur die in Wien versammelten Staatsmänner zu gemeinsamen Maßnahmen gegen die Staaten des Maghreb auf. Er verstand diese vielmehr als den Beginn eines »Heiligen Krieges« gegen die Welt des Islam. Stelle doch diese »Religion des Krieges« [6], trotz ihres Wertes als »Mittelstufe zu höherer religiöser Bildung« [7], dem weiteren »Fortschreiten zu den Zielen der Menschheit unüberwindliche Hindernisse« [8] entgegen.

Pirates GameDie europaweite Kampagne gegen die Staaten des Maghreb in den Jahren nach den napoleonischen Kriegen fand in der Geschichtsschreibung nur wenig Beachtung. I.d.R. werden ihre Forderungen vor dem Hintergrund des aufgeklärten Topos der „nordafrikanischen Raub- und Piratenstaaten“ eingeordnet. In meiner Magisterarbeit Halbmond vor der Waterkant – Die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck und die „Barbareskenfrage“ 1814–1830 hingegen konnte ich auf der Grundlage des Aktenmaterials des Bremer Senates herausarbeiten, dass diese Kampagne sich nicht aus einem besonderen strukturellen Charakter der Staaten des Maghreb, sondern vielmehr aus der innereuropäischen Nachkriegssituation erklären lässt. [9]

Auf der europäischen Ebene stellten die Forderungen der „Barbareskenkampagne“ mit dem Herrschaftsanspruch Großbritanniens über die Weltmeere und dem Metternichschen System der Restauration zwei zentrale Elemente der europäischen Nachkriegsordnung in Frage. Darüber hinaus nutzten die drei Hansestädte, die sich schon frühzeitig, seit den Verhandlungen zum 1. Pariser Frieden 1814 für gemeinsame europäische Maßnahmen gegen die Staaten des Maghreb engagierten die Kampagne, um, zeitweise durchaus mit einem gewissen Erfolg, mit der Forderung nach dem Aufbau einer deutschen Flotte und einer gemeinsamen Außenpolitik, für die Stärkung der zentralen Ebene des Deutschen Bundes zu mobilisieren. So nahm z.B. Wilhelm von Humboldt nach einem Gespräch mit dem Bremer Vertreter beim Deutschen Bund, Johann Smidt, den vom Deutschen Bund diskutierten Plan, eine aus sechs Fregatten und sechs Briggs bestehende deutsche Flotte im Mittelmeer kreuzen zu lassen auf und legte auf den Londoner Konferenzen 1817/18 den dort verhandelnden Großmächten diesen Plan – allerdings unter europäische Flagge – vor.

Während also die diplomatischen Initiativen der deutschen Hansestädte zur „Barbareskenfrage“ im Untersuchungszeitraum an den Primärquellen rekonstruiert worden sind, steht die Aufarbeitung der Kampagne auf der zivilgesellschaftlichen Ebene, sowie der ideengeschichtlichen Wurzeln der mit ihnen verbundenen aufgeklärt-millenaristischen Vorstellungen im Hintergrund der Kampagne allerdings noch weitgehend aus. Mit der Bremer Zeitung – die Tageszeitung war quasi das Organ des Bremer Senates – und zahlreichen politischen und religiösen Kleinschriften und Predigten aus diesem Zeitraum steht hierzu in Norddeutschland allerdings umfangreiches, neu zu erschließendes Quellenmaterial zur Verfügung.

Ravensburger PuzzleEbenso unbefriedigt ist die Literaturlage zur „Barbareskenkampagne“ auf der europäischen Ebene. Zwar ließ sich aus dem vorliegenden Quellenmaterial verifizieren, dass die britische Regierung, die der Kampagne zunächst ablehnend gegenüber stand, sich zweimal genötigt sah, ihre Politik fundamental zu revidieren. 1816 bombardierte eine britisch-niederländische Schwadron Algier und erzwang von der dortigen Regierung die Freilassung hunderter gefangener Europäer und die Zusage, in Zukunft auf die Versklavung von Kriegsgefangenen zu verzichten. 1819 übergab eine britisch-französische Flotte, obwohl die britische Regierung bisher die Kaperung europäischer Schiffe durch maghrebinische Staaten als völkerrechtlich nicht zu beanstandende Akte der Seekriegsführung interpretiert hatte, die Regierung in Algier auf, »das System der Piraterie nieder zu legen« [10] und drohte anderenfalls mit der Bildung eines antimaghrebinischen, europäischen Militärbündnisses.

Bonbardierung ExmouthOb dieses aber unter dem Druck der Außenpolitik der anderen europäischen Großmächte, die die „Barbareskenfrage“ zunehmend für sich entdeckten oder unter dem Druck der Öffentlichkeitskampagne der Chevaliers Libérateurs des Esclaves Blancs en Afrique in Großbritannien geschah, wie Oded Löwenheim [11] annimmt, muss offen bleiben, solange hierzu eine systematische Auswertung der britischen Parlamentsdebatten zwischen 1814 und 1820, der Biographien der politischen Entscheidungsträger der Zeit, sowie der Akten des britischen Außenministeriums (Berichte vom Wiener Kongress 1814/15, von den Londoner Konferenzen 1817/18 und dem Aachener Kongress 1819) als auch des Kolonialministeriums (Berichte der britischen Konsule im Maghreb) noch aussteht. Behielte Löwenheim mit seiner Einschätzung allerdings recht, wären die „europäische Barbareskenkampagne“ und die mit ihr verbundenen aufgeklärt-millenaristischen Vorstellungen ein Ausdruck der politischen Ziele und weltanschaulichen Hoffnungen nicht nur einiger Sonderlinge, die sich für außenpolitische Interessen instrumentalisieren ließen, sondern eines relevanten Teils der europäischen Eliten in diesen Jahren.

[1] Vgl. John B. Wolf: The Barbary Coast: Algiers under the Turks; 1500 to 1830. New York [u.a.]: Norton 1979.

[2] Vgl. Jörg Manfred Mössner: Die Völkerrechtspersönlichkeit und die Völkerrechtspraxis der Barbareskenstaaten: Algier, Tripolis, Tunis 1518–1830. Berlin: de Gruyter 1968.

[3] Zum Niedergang der maghrebinischen Seemacht vgl. Daniel Panzac: The Barbary Corsairs: The End of a Legend 1800–1820. Leiden: Brill 2005.

[4] Zur Wahrnehmung der Staaten in der deutschsprachigen Literatur vgl.: Ernstpeter Ruhe: Christensklaven als Beute nordafrikanischer Piraten: Das Bild des Maghreb im Europa des 16.–19. Jahrhunderts. In: Europas islamische Nachbarn. Studien zur Literatur und Geschichte des Maghreb, Bd. 1, Würzburg: Könighausen u. Neumann 1993, 159–187. Zum Maghrebbild der europäischen Aufklärung vgl.: Ann Thomson: Barbary and Enlightenment: European Attitudes Towards the Maghreb in the 18th Century. Leiden [u.a.]: Brill 1987.

[5] Friedrich Herrmann: Ueber die Seeräuber im Mittelmeer und ihre Vertilgung: ein Völkerwunsch an den erlauchten Kongress in Wien; mit den nöthigen historischen und statistischen Erläuterungen. Lübeck: Michelsen 1815. Der Text wurde auszugsweise in französischer Sprache übersetzt und vom Bremer Verlag Heyse herausgegeben: Frédéric Herrmann: Appel aux Puissances de l’Europe pour faire cesser les pirateries des Barbaresques dans la méditerranée . Bremen: Heyse 1816.

[6] Herrmann: Ueber die Seeräuber, op. cit., 347.

[7] Ibid.

[8] Ibid.

[9] Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Magisterarbeit findet sich in Eisermann 2007

[10] Robert Lambert Playfair: The Scourge of Christendom. Annals of British Relations with Algiers Prior to the French Conquest. Freeport: Books for Libraries P. 1972, Reprint der Ausgabe von 1884, 285ff.

[11] Oded Löwenheim: “Do Ourselves Credit and Render a Lasting Service to Mankind”. British Moral Prestige, Humanitarian Intervention, and the Barbary Pirates. International Studies Quarterly 47:1 (2003), 23–48.