Christival 2008

Feste Burg oder spirituelle Unschärferelation?

Jesus sucht die Postmoderne

Christival BannerRoland Werner, Cheforganisator des Christivals, mahnte in einer 2007 erschienenen programmatischen Veröffentlichung die evangelikale Bewegung Deutschlands, sie solle „sich vor inneren Selbstzerfleischungstendenzen bewahren und zu der Kraft heranreifen, die in der Tat in der Lage ist, auch in einer postmodernen und teilweise gegen-christlichen Gesellschaft Gehör zu finden und positiv Orientierung zu geben.“ [1] Dem hehren Anspruch nach gesellschaftlicher Relevanz stand gegenüber, dass öffentliche Debatten mit Veranstaltern und Teilnehmern des Christival in Bremen eine Randerscheinung blieben. Kontrovers angelegte Diskussionen waren nicht im offiziellen Programm vorgesehen; der durchaus vorhandene Bedarf suchte daher nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten. [2] Tatsächlich weckten einige Veranstaltungen des Kongresses den Eindruck, dass die Bewegung noch mitten in einem Prozess steckt, in dem es um die Standortsbestimmung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft geht. Dieser Prozess, so ließ sich beobachten, ist allerdings an einem Punkt angelangt, an dem die Selbstreflexion davor steht, in gesellschaftliches Handeln und gezielte Mission einzumünden.

SelbstfindungDie Bedingungen, unter denen evangelikale Mission im Europa der Gegenwart stattfindet, waren Thema des Seminars „Christians United for Europe“, das während des Christivals mehrfach von Vertretern des Jugendverbandes „Entschieden für Christus“ angeboten wurde. Der Beginn der Mission – so Dr. Thomas Kröck, Referent des Seminars am 01.05. – setzte unmittelbar mit der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies ein. Ihr zentraler Akteur sei Gott, menschliche Missionstätigkeit Teilhabe am Werk Gottes. Dabei habe die Mission zwei Ebenen: die eigentliche Evangelisation sowie soziales und politisches Engagement, dass auch auf die Gestaltung von Politikfeldern wie z.B. Bildung, Justiz und Soziales abziele.

Zur Gegenwart konstatierte Kröck einen signifikanten Wandel im sozialen und kulturellen Kontext von Evangelisierung in Europa.Lebensangebot Auch wenn Europa weiterhin von nationalen, regionalen und ethnischen Identitäten geprägt werde, sah der Referent derzeit eine gemeinsame europäische Kultur heranwachsen, die er als spezifische Variante globaler Kultur, als „post-modern“ kennzeichnete. Inhaltlich formulierte der Referent sein Verständnis von Postmoderne vor allem durch eine Negativbestimmung – es gäbe nicht eine genuin positive Abgrenzung des Begriffes, sondern er wird durch den Umstand definiert, dass er nach etwas anderem eintritt. Die auf die Moderne folgende Epoche sei von der apologetischen Akzeptanz bestehender Verhältnisse gekennzeichnet. Dem gegenüber sah er es als eine Stärke evangelikaler Christen, in die gesellschaftliche Debatte wieder Kategorien wie „gut“ und „böse“ einzuführen.

BeziehungDie Zustände in Europa seien derzeit von Pluralismus, Multikulturalismus, Mangel an Liebe und Hoffnung, Hedonismus, Säkularisierung und einer Offenheit für neue Ideen geprägt. Wichtige Anknüpfungspunkte für evangelikale Mission bei der jungen Generation – die erste, die vollständig von der Postmoderne geprägt sein wird – sah Kröck vor allem in ihrer großen Offenheit für spirituelle Ideen und ihrem Pragmatismus. „Was habe ich vom Christentum?“, würde sie fragen. Eine Frage, vor der evangelikalen Christen nicht bange sein müsse. So hätten sie für diese Generation – angesichts des Hungers nach menschlichen Beziehungen bei gleichzeitig wachsender Unfähigkeit, diese aufzubauen – mit dem Modell der Familie als gelebte Partnerschaft und dem Angebot einer direkten Beziehung zu Gott einiges vorzuweisen.

ButtonsZu der obigen Gesellschaftsanalyse und dem einhergehenden Verständnis von „Postmoderne“ hätte Tobias Faix, Soziologe und Praktischer Theologe am Marburger Bibel-Seminar, vermutlich einzuwenden gehabt, dass es weniger darum gehe, die Kirche vor der postmodernen Kultur zu bewahren, sondern vielmehr das Reich Gottes mitten in der postmodernen Welt zu leben. In dem Seminar „Emerging Church: Kultur und Evangelium in der Postmoderne“ definierte Faix letztere mit eher positiv besetzten Eigenschaften: Patchwork, Pluralismus, Erlebnisdrang, Individualisierung, Jetzt leben, Toleranz und Hang zum Transzendenten waren hier die Schlagwörter. Eine wichtige Botschaft des Referenten an sein Publikum lautete dabei, dass mit ihnen eine gesellschaftliche Veränderung umschrieben werde, „die sich auch bei Christen zeigt“. Und mehr noch: „Glaube, Gemeinde und Kirche verändert sich in dem Maße, in dem sich Menschen verändern.“

Aus dieser soziologischen Selbstverständlichkeit heraus erwachse die Forderung nach „kultureller Flexibilität“ in der Evangelisation. „Gott redet zu jedem in seiner Sprache.“ Der Prozess der Evangelisation beginne auf der Gemeindeebene, wobei Faix einen weiten Begriff von „Gemeinde“ vertrat, der von einem örtlichen Zusammenschluss der Jesus Freaks bis zur klassischen Gemeinde der Landeskirche reicht. Damit entstehe der „Anspruch, aus allen Denominationen heraus zu wachsen“ und in sämtlichen Ten Singchristlichen Glaubensrichtungen als „Emerging Church“ die Gemeinden der Postmoderne zu bilden. Kennzeichen dieser neuen Gemeinden seien u.a. die Transformation des säkularen Raums, die Identifikation mit Jesus, die Einbringung der Mitglieder in der Gestaltung des Gemeindelebens, flache Hierarchien und die Verschmelzung alter und neuer Formen der Spiritualität. [3]

Die gesamte Anlage und Programmgestaltung des Christivals lassen den Rückschluss zu, dass das Konzept der „Emerging Church“ in den dortigen Leitungsebenen sehr ernst genommen wurde.Sinnestäuschung Von daher ist der Vorwurf des rückständigen Fundamentalismus, der gegenüber den Veranstaltern erhoben wurde, sicher zu kurz gegriffen. Von den Vertretern der „Emerging Church“ kann allerdings nicht erwartet werden, das Wort der Bibel einer historisch-kritischen Lektüre unterziehen zu wollen. Für die postmodernen Strategen hat die Moderne abgedankt. „Die wildesten Theorien“ hätten rationale Theologen entworfen, um nur ja keine Wunder im Bibeltext zuzulassen, so Faix. Statt dessen wird nun versucht, dem Text über eine zeitunabhängige Kommunikation Relevanz zu verleihen, seine erzählerischen Elemente in die Gegenwart zu versetzen: „Die Postmoderne ist das Zeitalter der ,Storys‘ […]. Der postmodern geprägte Mensch liebt Geschichten, in jeder Spielart. […] So hat sich heute […] die synchrone Exegese etabliert. Die synchrone Exegese respektiert den Text in seiner Endgestalt, denn das ist die einzige Form, die uns wirklich überliefert ist, alles andere ist oft höchst spekulativ. Der biblische Text will als Geschichte ernst genommen werden.“ [4] Welche Spielarten der Auslegung diese narrative, auf mediale Kurzbotschaften zugeschnittene „Theologie“ produzieren wird, bleibt noch abzuwarten.

[1] Roland Werner: Der E-Faktor. Zitiert nach Roland Werner of Marburg, Eintrag vom 05.04.2007.

[2] Vgl. zum Beispiel den Beitrag zum Christival im Citytalk, der innerhalb von gut einer Woche beeindruckende 538 Kommentare aus einem breiten Meinungsspektrum verzeichnete. Auf zwei öffentliche Debatten sind die Autoren in BBKR · Wieviel Religion verträgt die Gesellschaft? eingegangen.

[3] In Anlehnung an Eddie Gibbs und Ryan K. Bolger: Emerging Churches: Creating Christian Community in Postmodern Cultures. Grand Rapids MI: Baker Academic 2005.

[4] Mike Bischoff: Gedanken zur Theologie in der Postmoderne. In: Tobias Faix und Thomas Weißenborn (Hg.): ZeitGeist: Kultur und Evangelium in der Postmoderne. Marburg: Francke 2007, 112–19, 117.

Hinzugefügt am 13. Mai 2008 | Frank; Tilman